„Wie hast du das konkret gemacht – die KI-Einführung in deinem Studiengang?“ und „Was waren die Konsequenzen dieser Transformation?“ Diese Fragen erreichen mich immer wieder von Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Hochschulen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen.
Die Antwort ist weniger spektakulär als viele erwarten – und gleichzeitig komplexer. Nach zwei Jahren der KI-Integration in unserem Masterstudiengang – von den ersten zaghaften Experimenten bis hin zum systematischen, durchgängigen Einsatz – zeigt sich: Es gibt keine magische Lösung, aber sehr wohl einen strukturierten Weg.
Was ich dabei erlebt habe, hat sogar mich selbst überrascht: Was als persönliche Neugier auf neue Technologien begann, entwickelte sich zu einer fundamentalen Neuausrichtung meiner gesamten Lehrpraxis. Ich erlebte, wie Studierende plötzlich zu Lehrenden wurden. Ich musste mit ansehen, wie liebgewonnene Prüfungsformate über Nacht obsolet wurden. Vor allem aber erkannte ich, dass die KI-Integration weit weniger ein technisches als ein zutiefst pädagogisches Projekt ist.
Aus diesen persönlichen Erfahrungen hat sich ein Fünf-Phasen-Modell herauskristallisiert, das von der eigenen Kompetenzentwicklung über die systematische Vermittlung bis hin zur Neugestaltung von Aufgaben und Qualitätsstandards reicht. Es ist mein praxiserprobter Ansatz, der sich an alle richtet, die KI nicht nur implementieren, sondern wirklich integrieren möchten.
Schritt 1: Grundlagen schaffen - die eigene KI-Kompetenz entwickeln
Der größte Fehler, den ich bei Lehrenden beobachte: Sie versuchen, KI in ihre Lehre zu integrieren, ohne selbst praktische Erfahrung im Umgang mit dieser Technologie zu haben. Das führt unweigerlich zu Problemen, denn die Studierenden merken sofort, ob die Lehrenden wissen, wovon sie sprechen.
Für den Einstieg empfehle ich, eine fundierte Schulung zu besuchen oder einen Selbstlernkurs zu absolvieren. Das allein reicht jedoch nicht. Am wichtigsten ist das eigene Ausprobieren: Nutze KI intensiv in deinem persönlichen Arbeitsalltag. Nur so entwickelst du ein authentisches Gefühl für die Möglichkeiten und Grenzen der Technologie.
Die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz entwickeln sich rasant weiter. Um Schritt zu halten, ist kontinuierliche Weiterbildung entscheidend. Du kannst beispielsweise Expertinnen und Experten in sozialen Netzwerken folgen, Newsletter abonnieren oder Podcasts hören. Das eigene Posten, Lehren und Vortragen kann wertvoll sein, ist aber nicht unbedingt erforderlich. Viel wichtiger ist eine intensive persönliche Auseinandersetzung mit der Technologie, bevor diese in die Lehre integriert wird.
Konkrete Empfehlung: Setze KI mindestens drei Monate lang intensiv für deine eigenen Arbeitsaufgaben ein, bevor du sie in der Lehre verwendest.
Schritt 2: KI-Kompetenzen vermitteln - Studierende systematisch abholen
Die eigene KI-Kompetenz ist das unverzichtbare Fundament. Doch erst in der Vermittlung an Studierende zeigt sich die Komplexität der Technologie-Integration in ihrer ganzen Bandbreite: Was zunächst wie ein linearer Wissenstransfer erscheint, entwickelt sich schnell zu einem bidirektionalen Lernprozess mit überraschenden Wendungen.
Meiner Erfahrung nach ist eine strukturierte KI-Einführung mit praxisorientierten Anwendungsfällen der wirkungsvollste Einstieg für Studierende. Dabei erweist es sich als besonders wertvoll, die Erfahrungen der Studierenden systematisch einzubinden. Oft bringen sie überraschende Einblicke in Tools mit, die mir noch nicht bekannt waren. Auch die KI-Schulungen der Studierenden erfordern kontinuierliche Aufmerksamkeit für Updates, da sich die Technologielandschaft ständig wandelt.
Die Integration von KI in die Lehre ist überall dort möglich, wo sie fachlich sinnvoll ist – typischerweise in allen Bereichen der Inhaltserstellung, sei es Text, Bild, Audio oder Video. In unserem Studiengang erstreckt sich das von der Bildbearbeitung und Videoproduktion bis hin zur Kurskonzeption und dem Einsatz spezialisierter Autoren-Tools. Dabei bleibt die Berufsfeldrelevanz entscheidend: KI wird primär dort eingesetzt, wo sie auch im späteren Arbeitsalltag der Studierenden eine Rolle spielt.
Die Etablierung einer Kultur des gemeinsamen Experimentierens hat sich als besonders wertvoll erwiesen. Wir arbeiten wie in einem „KI-Labor“, in dem alle voneinander lernen. In Bereichen wie KI-generierter Musik verfügen einige Studierende mittlerweile über mehr Expertise als ich. Diese Entwicklung unterstreicht den kollaborativen Charakter des Lernprozesses. Diese Umkehrung der traditionellen Lernrichtung verdeutlicht eine der faszinierendsten Dimensionen der KI-Integration: Die Grenzen zwischen Lehrenden und Lernenden werden durchlässiger.
Konkrete Empfehlung: Erstelle ein gemeinsames Dokument oder Padlet, in das die Studierenden ihre Entdeckungen zu KI-Tools bzw. neuen Funktionen eintragen können.
Schritt 3: Kompetenzen bewahren - Was ohne KI beherrscht werden muss
„Um KI zu dirigieren, die Ergebnisse einschätzen zu können und mehrere KIs zu orchestrieren, muss man Expertin oder Experte auf dem jeweiligen Gebiet sein.“ Diese Aussage eines technischen Kollegen bringt eine zentrale Erkenntnis auf den Punkt, nämlich dass KI zwar Expertise verstärkt, diese aber nicht ersetzt. Das gilt zumindest für die qualifizierten Jobs der Zukunft, in denen Menschen KI nicht nur bedienen, sondern sie auch strategisch einsetzen und ihre Grenzen verstehen müssen.
Im E-Learning-Bereich zeigt sich diese Dynamik besonders deutlich. Zwar können Studierende mittlerweile mit KI-Unterstützung beeindruckende didaktische Konzepte entwickeln, doch ohne fundiertes Verständnis der zugrunde liegenden Theorien bleiben diese Arbeiten oberflächlich. Die für einen verantwortlichen KI-Einsatz erforderlichen kuratorischen und evaluativen Fähigkeiten setzen nach wie vor solides Fachwissen voraus.
Die bewährte Taschenrechner-Analogie bietet eine wichtige Orientierung: Selbst nach Jahrzehnten der Nutzung von Taschenrechnern erwarten wir ein grundlegendes mathematisches Verständnis. Ähnlich verhält es sich mit KI. Die entscheidende Frage lautet hier: Was ist das „Kopfrechnen” der KI-Ära? In meinem Bereich bedeutet das beispielsweise, dass Studierende verstehen müssen, wie Lernprozesse funktionieren, welche didaktischen Ansätze in welchen Kontexten greifen und wie sich pädagogische Theorien praktisch umsetzen lassen.
Diese Erkenntnis führt zu einer paradoxen, aber notwendigen Konsequenz: Einerseits müssen wir weiterhin Expertinnen und Experten ausbilden, andererseits müssen wir beim Überprüfen dieser Kompetenzen vollständig in die Präsenz zurückkehren. Mündliche Prüfungen, beobachtete Gruppenarbeiten und zeitbegrenzte Präsenztests rücken dabei wieder in den Vordergrund – nicht als Rückschritt, sondern als Anpassung an die neue Realität.
Konkrete Empfehlung: Erstelle eine Liste der Kernkompetenzen, die Studierende ohne KI beherrschen müssen. Erkläre ihnen offen, dass sie durch diese Grundlagen zu Expertinnen und Experten werden, die KI verantwortungsvoll steuern können – und dass du diese Fertigkeiten deshalb bewusst ohne technologische Hilfsmittel für Studierende in Präsenz prüfst.
Schritt 4: Lehre transformieren - Aufgaben neu konzipieren
Nachdem ich die KI-freien Kernkompetenzen definiert hatte, konfrontierte mich der Alltag mit einer ebenso wichtigen Erkenntnis. Während einer Lehrveranstaltung zur Entwicklung von Blended-Learning-Konzepten beobachtete ich, wie Studierendenteams ihre Gruppenarbeiten in einem Bruchteil der gewohnten Zeit absolvierten – mit Ergebnissen, die meine Erwartungen bei Weitem übertrafen. Sie nutzten KI systematisch für Recherche, Konzeptentwicklung, Ausarbeitung und Visualisierung. Was zunächst wie eine Unterwanderung traditioneller Lernprozesse wirkte, entpuppte sich als Vorschau auf ihre berufliche Realität.
Diese Beobachtung führte zu einer grundlegenden Einsicht: Anstatt die Nutzung von KI zu unterbinden, sollte ich Aufgaben entwickeln, die den strategischen Einsatz dieser Technologie fordern und eine kompetente Anwendung sichtbar machen. Die berufsbegleitenden Studierenden arbeiten dabei genauso wie im Beruf: Sie nutzen KI als selbstverständliches Werkzeug.
Der Schlüssel liegt in der bewussten Neugestaltung von Aufgabenformaten, die traditionelle Wissensabfragen hinter sich lassen. Besonders erfolgreich sind dabei Ansätze, die Lernprozesse und deren Reflexion ins Zentrum rücken, authentische Kontexte schaffen und multimodale Kompetenzen entwickeln – vor allem aber solche, die KI-Nutzung als integralen Bestandteil mitdenken. KI-Rollenspiele haben sich beispielsweise als außerordentlich wirkungsvoll erwiesen. Dabei schlüpfen Studierende in verschiedene Rollen und nutzen KI-Systeme als Gesprächspartner für komplexe didaktische Szenarien. Diese Formate schaffen authentische Lernkontexte, die weit über traditionelle Aufgabenstellungen hinausgehen.
Besonders wirkungsvoll sind praxisorientierte Aufgabenstellungen, die direkt im beruflichen Umfeld der Studierenden verankert sind. Wenn berufsbegleitende Studierende beispielsweise ein Weiterbildungskonzept für ihr eigenes Unternehmen entwickeln, werden multiple Kompetenzebenen gleichzeitig sichtbar: das theoretische Fundament, die Analysefähigkeit organisationaler Strukturen, die strategische KI-Nutzung und die Reflexionskompetenz. Generische KI-Lösungen scheitern an solchen authentischen Kontexten und zeigen somit, wer über die notwendige Kombination aus Fachwissen, Praxiserfahrung und technologischer Kompetenz verfügt.
Konkrete Empfehlung: Gestalte Aufgaben, die die Nutzung von KI als selbstverständlichen Arbeitsbestandteil integrieren und gleichzeitig fachliche Tiefe einfordern. Der Fokus sollte dabei auf Reflexion, Kontextualisierung und der Bewertung KI-generierter Ergebnisse liegen.
Schritt 5: Exzellenz fördern - Anforderungen steigern und Transparenz etablieren
Die erfolgreiche Integration KI-gestützter Aufgabenformate führte zu einer paradoxen Beobachtung: Während die Arbeitsqualität bei strategischer Nutzung von KI deutlich stieg, sank sie bei unreflektierter Anwendung erheblich. Besonders auffällig war dies bei wissenschaftlichen Arbeiten, in denen Studierende plötzlich massenhaft Quellen anführten, deren Relevanz sie jedoch nicht mehr eigenständig bewerteten.
Gleichzeitig eröffnete KI völlig neue Dimensionen des Arbeitens: Transkriptionen, für die man früher Tage gebraucht hatte, waren nun in Minuten erledigt. Systematische Literaturreviews, die bisher nur in Forschungsprojekten realisierbar waren, wurden für Masterarbeiten machbar. Unsere traditionellen Workload-Berechnungen erwiesen sich als obsolet – eine Erkenntnis, die weit über administrative Fragen hinausgeht.
Diese Entwicklung hat mich zu einer neuen Einsicht geführt: Wenn KI Routinearbeiten übernimmt und gleichzeitig komplexere Analysen ermöglicht, müssen die Anforderungen an alle unbeaufsichtigten schriftlichen Arbeiten entsprechend steigen. Dies ist keine willkürliche Erschwerung, sondern eine logische Anpassung an erweiterte Möglichkeiten. So fordern wir bei Masterarbeiten mittlerweile systematische Literaturreviews statt oberflächlicher Quellensammlungen. Die Anhebung der Standards für empirische Methoden wird folgen.
Diese Transformation spiegelt eine gesellschaftliche Realität wider: Eine KI-gestützte Arbeitswelt wird sowohl höhere Qualität in kürzerer Zeit ermöglichen als auch einfordern. Darauf bereiten wir vor, indem wir konsequente Transparenz über die Nutzung von KI verlangen und gleichzeitig die inhaltlichen Anforderungen an die eigenständige intellektuelle Leistung systematisch schärfen.
Konkrete Empfehlung: Etabliere klare Dokumentationsstandards für die Nutzung von KI und nutze die durch KI-Nutzung gewonnenen Effizienzgewinne für höhere Qualitätsanforderungen. Die Zukunft liegt nicht nur in der Arbeitserleichterung, sondern in der Ermöglichung anspruchsvollerer intellektueller Leistungen.
Was ich gelernt habe - und was das für dich bedeutet
Die Reise der KI-Integration hat für mich drei Erkenntnisse hervorgebracht, die über technische Aspekte weit hinausgehen.
Erstens ist KI-Integration primär ein pädagogisches, nicht ein technisches Projekt. Die größten Herausforderungen entstehen nicht durch die Technologie selbst, sondern durch die Neuausrichtung etablierter Lehr- und Lernpraktiken. Wer dies als rein technische Implementierung versteht, wird scheitern.
Zweitens werden die Rollen von Lehrenden und Lernenden neu definiert. Die traditionelle Wissenshierarchie löst sich auf und macht Platz für kollaborative Lernprozesse, in denen Expertise situativ und bidirektional entsteht. Diese Transformation erfordert Mut zur Unsicherheit und Offenheit für unerwartete Wendungen.
Drittens führt die technologische Unterstützung paradoxerweise nicht zur Vereinfachung, sondern zur Erhöhung der Qualitätsansprüche. KI ermöglicht komplexere intellektuelle Leistungen und macht sie damit zur neuen Normalität. Wer dies ignoriert, bildet an der Realität vorbei aus.
Für Kolleginnen und Kollegen, die vor ähnlichen Entscheidungen stehen, ist meine wichtigste Empfehlung folgende: Beginnt mit der eigenen Kompetenzentwicklung, experimentiert behutsam und reflektiert kontinuierlich. Die Studierenden werden euch in diesem Prozess oft überraschen – und das ist ein Geschenk und keine Bedrohung.
Die Transformation der Hochschullehre ist keine ferne Zukunftsvision, sondern gegenwärtige Realität. Gestalten wir sie bewusst!
Meine LinkedIn Beiträge
Die folgenden LinkedIn-Beiträge habe ich seit dem letzten Newsletter veröffentlicht und sind auch ohne LinkedIn-Mitgliedschaft frei zugänglich:
KI-Automatisierung von systematischen Reviews
Was wäre, wenn du die Forschungsarbeit von 12 Jahren in nur zwei Tagen erledigen könntest? Klingt wie Science-Fiction, ist aber Realität: Eine neue Studie zeigt, wie systematische Übersichtsarbeiten mit KI automatisiert werden können. Systematische Reviews sind der Goldstandard für evidenzbasierte Entscheidungen, dauern jedoch oft mehr als ein Jahr und sind fehleranfällig.
Wissensdatenbanken: Mehr Leistung, mehr Zufriedenheit
Wiki-Realitätscheck: Was erleben Teams, wenn Wissensmanagement vom Buzzword zur Arbeitsrealität wird? Genau dieser Frage sind Lukas Schober, Rita Stampfl und ich in unserer aktuellen Studie nachgegangen.
Liebe Kollegen, Barbara Geyer, ich sitze gerade im ICE und bereite meinen Vortrag bei einem der nächsten Tagungen vor mit dem Thema “KI-Revolution in der Lehre -Chancen und Risiken” Da poppt ihre Nachricht auf und ich fühle mich wie hinein versetzt in mein eigenes Skript was ich gerade für die lieben Kollegen der Wirtschaftsrecht Professoren an Hochschulen erstelle, um ihn genau zu diesem Thema beiseite zu stehen.
Alle ihre Impulse und Empfehlung sprechen mir aus der Seele seitdem vor zwei Jahren im Sommersemester 2023 das erste Mal ein Student den Professor (mich) mit einem KI Ergebnis “rechts überholt hat” und ein besseres Ergebnis abgeliefert hat als das, was ich seit über 30 Jahren in diesem Einstiegsfall gesehen, geleert oder selbst gewusst habe.
Bitte da gerne weiter mit diesen Impulse machen und lassen Sie uns hierrüber oder auch anderswo in Kontakt bleiben.
Sehr wertvoll fand ich noch der Hinweis, dass die Tatsache, dass die Studierenden unsere Lehrvorlesungen mal ehrlich gesagt “neu schreiben” und uns dann das auch manchmal als Bedrohung empfunden wird von Seiten der Lehrenden…. Ja genau, aber sie sagen zu Recht: das als Geschenk ansehen!. Das fand ich sehr schön. Liebe Grüße Thorsten Richter, HTW Dresden, Fakultät Wirtschaftswissenschaften
Wow 👏🏻 Vielen Dank fürs Teilen! Sehr großzügig und für mich nachahmenswert 💡