"Ich gebe keine Aufgaben mehr ab, die nur von mir geschrieben und nicht von der KI bearbeitet werden. Zumindest die Grammatik lasse ich durch DeepL Write korrigieren - und du machst das ja auch so". Mit dieser erfrischend ehrlichen Bemerkung hat mich eine Studentin zum Nachdenken gebracht. Die Aussage verdeutlicht eine einfache Wahrheit: KI-Tools sind längst fester Bestandteil des Alltags geworden.
Wenn KI bei fast jeder Aufgabe hilft, verschwimmt die Grenze zwischen eigener und technisch unterstützter Leistung. Die Sorge vieler Lehrender ist daher verständlich. "Welche Aufgabenstellungen funktionieren im KI-Zeitalter überhaupt noch?" Diese Frage wird mir immer häufiger gestellt. Wir stehen vor der Herausforderung, Bewertungskonzepte anzupassen, ohne die Qualität unserer pädagogischen Arbeit zu opfern. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass der aktuelle KI-Umbruch Teil einer langen Geschichte technologischer Anpassungen im Bildungsbereich ist.
Nichts Neues: Vom Taschenrechner zur KI
Betrachtet man diese Herausforderung aus einer historischen Perspektive, so zeigt sich ein interessantes Muster. Die KI-bezogene Transformation ist nicht der erste technologische Wandel, der unsere pädagogischen Grundannahmen in Frage stellt. Sie reiht sich vielmehr in eine kontinuierliche Geschichte von Anpassungsprozessen ein, die unser Bildungsverständnis geprägt haben.
Tatsächlich hat sich weniger verändert, als wir auf den ersten Blick vermuten. Schon immer konnte man nicht sicher sein, ob die Lernenden ihre Aufgaben tatsächlich allein bewältigten. Eltern, Freunde, bezahlte Nachhilfe oder Google - externe Unterstützung gab es immer, nur ungleich verteilt. Was wir heute erleben, ist im Grunde eine Demokratisierung dieser Unterstützung: ChatGPT fungiert als "digitale Nachhilfe", die allen gleichermaßen zur Verfügung steht.
Wenn wir in die 1970er Jahre zurückblicken, als Taschenrechner erschwinglich wurden, standen Lehrende vor ähnlichen Fragen: Welche mathematischen Kompetenzen sollten Lernende noch ohne technische Unterstützung beherrschen? Die Antwort war ein differenzierter Ansatz: Man definierte Grundfertigkeiten, die noch ohne Hilfsmittel beherrscht werden sollten, und überprüfte diese in beaufsichtigten Umgebungen. Gleichzeitig wurden komplexere Aufgaben entwickelt, bei denen der Taschenrechner als legitimes Hilfsmittel diente.
In meiner eigenen Lehre gehe ich ähnlich vor: Grundlegende Konzepte teste ich in Präsenzveranstaltungen ohne KI-Unterstützung, während bei komplexeren Anwendungsaufgaben KI als Werkzeug willkommen ist.
Ein Modelle für Aufgabenstellungen im KI Zeitalter
Aus diesen Erkenntnissen habe ich ein integratives Modell entwickelt, das einen strukturierten Ansatz für Aufgabenstellungen im Zeitalter der KI bietet. Der Kerngedanke: Man muss zwischen beaufsichtigten und unbeaufsichtigten Lernräumen unterscheiden und diese durch gezielte Integrationsmethoden miteinander verzahnen.
1. In der Präsenz: Eine hybride Strategie
In den Präsenzphasen bietet die direkte Beobachtung enorme Vorteile. Hier können wir sowohl traditionelle als auch KI-gestützte Methoden sinnvoll einsetzen.
Traditionelle Bewertungsmethoden behalten durch die direkte Beobachtbarkeit ihren Wert: Beaufsichtigte Tests, mündliche Präsentationen mit spontanen Fragen, beobachtete Gruppenarbeiten und praktische Demonstrationen von Fertigkeiten bieten inhärente Authentizitätsgarantien.
Ergänzend können KI-gestützte Methoden integriert werden. Ein Beispiel sind moderierte Diskussionen, in denen die Lernenden KI-generierte Inhalte kritisch hinterfragen - eine Übung, die Medienkompetenz direkt mit Fachinhalten verknüpft.
2. Außerhalb der Präsenz: KI-resiliente Strategien
Die größte Herausforderung sind Aufgaben, die außerhalb der Präsenzzeiten bearbeitet werden. Hier haben die Lernenden uneingeschränkten Zugang zu KI-Tools, ohne dass wir den Prozess beobachten können. In diesem Zusammenhang ist ein Umdenken von ergebnisorientierten zu prozessorientierten, personalisierten und multimodalen Beurteilungsformen erforderlich.
Prozessorientierte Ansätze machen den Weg zum Ergebnis sichtbar. Die Dokumentation des Arbeitsprozesses und die Vorlage mehrerer Entwürfe machen den gedanklichen Fortschritt transparent. Der Prozess selbst und nicht nur das Endprodukt wird zum Gegenstand der Bewertung.
Personalisierte Aufgaben knüpfen an die individuelle Lebenswelt an. Ein Beispiel sind lokale Datenerhebungen mit Fotos oder Interviews im persönlichen Umfeld, die den Lernprozess in einem Kontext verankern, den die KI nicht simulieren kann. Dieser Bezug zum individuellen Erfahrungsraum schafft authentische Lernanlässe.
Multimodale Elemente erweitern das Format über den Text hinaus. Videoerklärungen mit sichtbaren Lernenden und die Kombination verschiedener Medienformate schaffen Ausdrucksformen, die KI-Systemen Grenzen setzen und unterschiedliche Lerntypen ansprechen.
In meiner eigenen Lehre habe ich besonders gute Ergebnisse mit praxisorientierten Aufgabenstellungen erzielt, die direkt im beruflichen Umfeld meiner Studierenden verankert sind. Dabei dokumentieren sie ihren KI-Einsatz in übersichtlichen Tabellen und können ihre Ergebnisse in verschiedenen medialen Formaten präsentieren. Da meine Studierenden berufstätig sind, entsteht eine natürliche Personalisierung der Aufgaben - ein Kontext, in dem generische KI-Lösungen an ihre Grenzen stoßen und der gleichzeitig die unmittelbare Anwendbarkeit des Gelernten sicherstellt.
Der fehlende Baustein: Integrationsmethoden
Die besondere Stärke des Modells liegt in der Verknüpfung der beiden Lernräume durch Integrationsmethoden. Diese schaffen kontinuierliche Lernzyklen zwischen Präsenz und Selbststudium.
Beim Flipped Classroom verlagert sich die Wissensvermittlung in die Phase des Selbststudiums. Im Idealfall jedoch nicht als passives Konsumieren, sondern z.B. durch aktives Erstellen eigener Erklärvideos oder dokumentierter Lernschritte. In der Präsenzphase wird dieses Vorwissen dann durch Diskussionen, Anwendungsaufgaben und direktes Feedback vertieft und überprüft - ein nahtloser Übergang zwischen beiden Lernräumen.
Projektbasiertes Lernen schafft längerfristige Lernprozesse, in denen die Lernenden während des Selbststudiums ihren Projektfortschritt dokumentieren. Die Präsenzphasen werden für Zwischenpräsentationen mit kritischen Fragen und beobachteter Teamarbeit genutzt, wodurch sowohl individuelle als auch kollaborative Kompetenzen bewertet werden können.
Problembasiertes Lernen verbindet beispielsweise die Recherche lokaler Fallbeispiele im Selbststudium mit der gemeinsamen Problemlösung und der Präsentation der eigenen Lösungen in der Präsenzveranstaltung. Diese Methode fördert besonders transferfähiges Denken und kritisches Urteilsvermögen.
Lernen im Zeitalter der KI: Verlagerung des pädagogischen Schwerpunkts
Die alltägliche Nutzung von KI-Tools durch Lernende erfordert eine Neuausrichtung unserer pädagogischen Grundhaltung. Wenn wir die Demokratisierung der "digitalen Nachhilfe" akzeptieren, öffnet sich ein Raum für wichtigere Fragen: Welche kognitiven Prozesse wollen wir fördern? Welche Kompetenzen bleiben auch in einer von KI durchdrungenen Welt unverzichtbar?
Meine Erfahrung zeigt, dass die hier vorgestellten integrativen Modelle weit über eine bloße Anpassung an technologische Gegebenheiten hinausgehen. Sie katalysieren eine längst überfällige Verschiebung des pädagogischen Fokus - weg von der Reproduktion von Wissen hin zur Förderung komplexer Denkprozesse. Die Trennung von beaufsichtigten und unbeaufsichtigten Lernräumen mit ihren jeweiligen Bewertungsansätzen schafft ein differenziertes Lernökosystem, in dem sowohl grundlegende als auch anwendungsorientierte Kompetenzen ihren Platz finden.
Besonders wertvoll erscheint mir die Betonung der menschlichen Dimension des Lernens. In einer Zeit, in der der Zugang zu Informationen nahezu universell geworden ist, gewinnen Dialog, kritische Reflexion und persönliche Erfahrung an Bedeutung. Die personalisierten Aufgaben mit Bezug zum beruflichen Umfeld meiner Studierenden schaffen nicht nur KI-resistentere Bewertungssituationen, sondern fördern gleichzeitig jene transformativen Lernerfahrungen, die über die reine Wissensvermittlung hinausgehen.
In diesem Spannungsfeld zwischen technologischer Effizienz und menschlicher Tiefe liegt vielleicht die größte Chance der Transformation durch KI: Sie zwingt uns, das Wesentliche unserer pädagogischen Arbeit neu zu definieren und jene Aspekte zu stärken, die genuin menschlich bleiben - Kreativität, kritisches Denken, kontextbezogene Anwendung und empathische Kommunikation.
Fazit: KI als Katalysator für pädagogische Erneuerung
Meine Reise durch die Bildungslandschaft im Zeitalter der KI hat mich zu einer überraschenden Erkenntnis geführt: Was zunächst als technologische Verwerfung erschien, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Einladung zur pädagogischen Erneuerung. Die Ansätze, die ich hier vorstelle, verbinden bewährte didaktische Prinzipien mit den Anforderungen einer Ära, in der KI zum alltäglichen Begleiter unserer Lernenden geworden ist.
Was sich grundlegend geändert hat, ist weniger die Bildung selbst als vielmehr die Dringlichkeit, mit der wir handeln müssen. Galt beispielsweise personalisiertes Lernen früher als fortschrittliche Option, ist es heute eine Notwendigkeit. Die KI-getriebene Transformation wirkt dabei wie ein Katalysator - nicht für eine komplette Neuerfindung der Bildung, sondern für eine längst überfällige Rückbesinnung auf ihre tieferen Werte: die Befähigung zu eigenständigem, kritischem Denken und die Anwendung von Wissen in authentischen Situationen.
So gesehen liegt in der scheinbaren Bedrohung durch KI eine bemerkenswerte Chance: die Chance, Bildung nicht nur technologisch, sondern vor allem menschlich neu zu denken.
Meine LinkedIn Beiträge
Die folgenden LinkedIn-Beiträge habe ich seit dem letzten Newsletter veröffentlicht und sind auch ohne LinkedIn-Mitgliedschaft frei zugänglich:
Wie sollen Seminararbeiten gestaltet werden, wenn Studierende ChatGPT nutzen? Praktische Antworten gibt der Leitfaden von Flick, Sölken und Winkelmann (2025).
Wie KI das Schreiben in der Gesellschaft verändert
24% aller Pressemitteilungen werden mit KI verfasst - bilden wir für eine Welt aus, die es nicht mehr gibt? Die spannende Studie von Liang et al. (2025) zeigt die stille Revolution in der professionellen Kommunikation.
Alter und kognitive Fähigkeiten
Die Studie von Hanushek et al. (2025) zeigt, warum geistige Aktivität unser Gehirn bis weit über 50 fit hält - und warum Bildungsberufe davon besonders profitieren. Die Längsschnittstudie macht Hoffnung für Bildungseinrichtungen und lebenslanges Lernen: Angestellte und Menschen mit höherer Bildung zeigen bis weit in die zweite Karrierehälfte hinein eine kontinuierliche Verbesserung ihrer Hirnleistung.
KI-gestützte Themendisposition
Kann KI bessere wissenschaftliche Arbeiten fördern? Ein innovativer Themendispo-Assistent zeigt, wie das geht! In unserem Artikel stellen Rita Stampfl und ich einen speziell entwickelten GPT Chatbot vor, der Studierende durch den komplexen Prozess der Themenfindung für wissenschaftliche Arbeiten führt. Und du kannst ihn auch nutzen.