Vor kurzem berichtete mir eine Freundin von ihren Erfahrungen mit einem verpflichtenden Online-Training in ihrer Firma. Ihre Methode war so einfach wie effektiv: Sie machte von jeder Quizfrage einen Screenshot, lud ihn in ChatGPT hoch und fragte einfach: "Was ist die richtige Antwort? Das Ergebnis? Ein fehlerfreier Abschluss der online Schulung.
Diese Anekdote erinnerte mich an meine eigene Erfahrung mit den Hausaufgaben meines Sohnes. Ich fotografierte seine Arbeit, lud das Bild in ChatGPT hoch und bat um eine Analyse: "Du bist eine Lehrerin. Was sind die Fehler in diesem Text? Erkläre sie einem Zwölfjährigen". Die KI lieferte prompt eine detaillierte Liste der Fehler mit entsprechenden Erklärungen.
Aber das ist noch nicht alles: Mein Sohn hat mir vor kurzem mitgeteilt, dass ich ihm nicht mehr bei der Vorbereitung seiner Referate helfen muss. Ein Freund habe ihm gezeigt, wie ChatGPT funktioniert. Wir haben ihm erklärt, dass die Lehrerinnen und Lehrer wahrscheinlich Fragen zum Inhalt stellen werden, um zu überprüfen, ob er das Referat selbst geschrieben und den Stoff verstanden hat. Die Vorstellung, Fragen zum Inhalt beantworten zu müssen, gefiel ihm nicht.
Die neue Realität der Prüfungskultur
Diese Beispiele verdeutlichen einen Wandel: KI-Tools machen es einfach, Antworten auf Prüfungsfragen zu generieren, ohne den Stoff mühsam lernen zu müssen. Die Verbreitung von KI-Tools stellt die Zuverlässigkeit aller unbeaufsichtigten schriftlichen Prüfungsformate in Frage. Dies betrifft nicht nur klassische Hausaufgaben, sondern vor allem auch Online-Prüfungen und Lernpfade mit integrierten Prüfungsfragen. Viele Online-Weiterbildungsangebote basieren jedoch genau auf diesem Prinzip.
Das Problem ist, dass diese Formate nicht mehr zuverlässig messen können, ob die Teilnehmenden tatsächlich etwas gelernt haben. Die Fähigkeit, Fragen richtig zu beantworten, bedeutet nicht mehr notwendigerweise, dass man den Stoff verstanden hat - es könnte einfach bedeuten, dass man gut darin ist, KI-Tools zu benutzen.
Selbst Anwendungen wie der „Safe Exam Browser", die das Surfen im Internet während der Prüfung verhindern sollen, bieten nur begrenzten Schutz. Warum? Weil die Studierenden einfach ihr Smartphone benutzen können, um ein Foto der Prüfungsfrage zu machen und es in eine KI-Anwendung wie ChatGPT einzuspeisen. Einige Apps erlauben sogar das Einsprechen von Fragen, was den Prozess noch einfacher macht.
Lösungsansätze für eine KI-geprägte Lehre
Was können wir als Lehrende also tun? In meiner eigenen Lehre habe ich bereits Veränderungen vorgenommen. Im letzten Studienjahr sind die Online-Prüfungen wieder in die Präsenzlehre zurückgekehrt. Für das kommende Studienjahr plane ich eine Umgestaltung meiner Online-Lernstrecken. Die bisher integrierten Prüfungsfragen werde ich nicht mehr zur Bewertung heranziehen. Stattdessen verlagere ich auch diese Prüfungen in die Präsenzlehre. Die Online-Lernstrecken behalten ihren Wert für die Stofferarbeitung, dienen aber nicht mehr der Leistungsbeurteilung.
Diese Neuorientierung geht Hand in Hand mit einer Rückbesinnung auf das Konzept des Flipped Classrooms in meiner Lehre. Bei dieser Methode bereiten sich die Studierenden zu Hause mit Lernvideos oder Online-Materialien vor - gerne auch mit Unterstützung von KI-Tools. In den Präsenzveranstaltungen nutzen wir dann die Zeit für Diskussionen, Übungen und die Anwendung des Gelernten. Dieser Ansatz fördert ein tieferes Verständnis und kritisches Denken, was in Zeiten allgegenwärtiger KI besonders wichtig ist. So nutzen wir die Vorteile der KI, ohne uns von ihr abhängig zu machen.
Ergänzend zum Flipped Classroom-Modell setze ich verstärkt auf praxisorientierte schriftliche Aufgabenformate, die ich bereits seit einiger Zeit erfolgreich einsetze. Diese Aufgaben berücksichtigen den Einsatz von KI und fördern gleichzeitig die eigenständige Anwendung des Gelernten. Bewährte Beispiele sind die Erstellung eines Konzepts zum persönlichen Wissensmanagement, die kritische Reflexion des eigenen KI-Einsatzes oder die Entwicklung eines Konzepts für einen KI-Chatbot. Diese Aufgabentypen ermöglichen es den Studierenden, ihr Wissen in realitätsnahen Kontexten anzuwenden und gleichzeitig die Möglichkeiten und Grenzen von KI-Werkzeugen kennenzulernen.
Die Zukunft der Prüfungsformate
Der technologische Wandel eröffnet neue Perspektiven für Prüfungsformate jenseits von unbeaufsichtigten Online-Tests und klassischen Seminararbeiten. Er bietet die Chance, bewährte KI-resistente Prüfungsformate zu stärken und innovative Ansätze zu entwickeln. Der Fokus liegt dabei auf anspruchsvollen, praxisnahen Aufgaben, die kritisches Denken statt bloßer Informationswiedergabe erfordern. Diese Ansätze fördern ein tieferes Verständnis und bereiten die Studierenden auf ihr späteres Berufsleben vor.
Auch wenn KI die Art und Weise, wie wir lernen, nicht grundlegend verändern wird, revolutioniert sie doch unsere Lernwerkzeuge. Dies erfordert eine Neugestaltung unserer Prüfungsformate. Indem wir uns dieser Herausforderung stellen, schaffen wir einen erfolgreichen Übergang von der akademischen Ausbildung in eine Arbeitswelt, in der KI-Kompetenzen zum Alltag gehören.
MEINE LINKEDIN-BEITRÄGE
Die folgenden LinkedIn-Beiträge habe ich seit dem letzten Newsletter veröffentlicht und sind auch ohne LinkedIn-Mitgliedschaft frei zugänglich:
Warum Nicht-KI-Experten beim Prompten scheitern
Warum scheitern selbst technikaffine Studierende am KI-Prompt-Design? Die Studie von Zamfirescu-Pereira et al. deckt überraschende Schwächen auf - selbst bei "Digital Natives". Entgegen gängiger Erwartungen kämpfen junge, technikaffine Menschen mit den Feinheiten der KI-Kommunikation.
Generative KI kann dem Lernen schaden
Verlernen Schülerinnen und Schüler das Lernen durch KI-Tools? Bastani et al. (2024) untersuchen in ihrer Studie die Auswirkungen von KI-Tutoren auf das Lernverhalten. Die Ergebnisse sind überraschend und mahnen zur Vorsicht bei der Integration von KI in den Unterricht.
Revolutionising Role-Playing Games with ChatGPT
KI-Rollenspiele in der Lehre: Ein Beispiel für praxisnahes Lernen mit ChatGPT-Rollenspielen. Unser Artikel "Revolutionising Role-Playing Games with ChatGPT" von Rita Stampfl, mir, Marie Deissl und Igor Ivkic (2024) zeigt, wie KI-Rollenspiele in der Lehre funktionieren können.V