Von Zetteln zu Prompts
Warum mein Zettelkasten scheiterte – und wie KI mein Lernen revolutionierte
Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, dass man KI wie ChatGPT nutzen kann, um weniger zu lernen – oder um mehr zu lernen. In diesem Beitrag möchte ich zeigen, wie ich KI nutze, um tiefer zu lernen, und welche Erkenntnisse sich daraus für deine Lehre ableiten lassen.
Mein gescheitertes Zettelkasten-Experiment
Bevor ich mich intensiv mit künstlicher Intelligenz beschäftigte, war ich besessen von einer anderen Idee: dem Zettelkasten, einem System, bei dem alle gelesenen Informationen auf einzelne Notizen geschrieben und systematisch verknüpft werden. Ich habe jahrelang unzählige Varianten ausprobiert, mich tief in die Materie eingelesen und meinen eigenen digitalen Zettelkasten gebaut, zuletzt mit Roam Research. Das Versprechen war verlockend: Alles Gelesene systematisch aufschreiben, verknüpfen und durch regelmäßiges Durchsehen für immer im Gedächtnis verankern.
Nach Jahren muss ich mir jedoch eingestehen: Es hat nicht funktioniert. Während der Aufbau eine Leidenschaft war, war die kontinuierliche Pflege eine Tortur. Es war frustrierend, mir das zuzugestehen, denn die Faszination für die Idee hat mich nie losgelassen.
Warum aber diese Besessenheit mit dem Zettelkasten und was hat das mit künstlicher Intelligenz zu tun? Der klassische Zettelkasten passte nicht zu meiner Denkweise. Kurz gesagt: Der Zettelkasten erfordert einen Gärtner, der das Beet sorgfältig bepflanzt. Ich bin jedoch eher eine Entdeckerin, die in einem fruchtbaren Dschungel auf neue Wege stößt. Diese Erkenntnis über meine Lernpersönlichkeit hat mir geholfen, besser zu verstehen, wie ich KI für das Lernen nutze.
Wie „Make It Stick“ mein Lernverständnis veränderte
Ein Anstoß für die Weiterentwicklung meines individuellen Lernwegs kam durch das Buch „Make It Stick” von Peter Brown, Henry Roediger und Mark McDaniel. Es zeigt wissenschaftlich fundiert, dass viele unserer gewohnten Lernmethoden ineffektiv sind. Anstatt bequemer Gewohnheiten brauchen wir zwar anstrengendere, aber nachweislich wirksamere Strategien.
Das Faszinierende dabei ist: Künstliche Intelligenz kann diese bewährten Lernprinzipien nicht nur unterstützen, sondern auch transformieren. Die acht Kernprinzipien dieses Werks erweisen sich als erstaunlich kompatibel mit KI-gestützten Lernansätzen. Diese Synergie habe ich in meiner eigenen Lernpraxis systematisch erkundet.
1. Retrieval Practice mit KI: Wenn das Gedächtnis zum Muskel wird
Das Prinzip: Retrieval Practice, eine der Kernstrategien aus „Make It Stick”, fordert uns auf, Informationen aktiv aus dem Gedächtnis abzurufen, anstatt sie passiv zu wiederholen oder zu markieren. Das Prinzip ist einfach, aber kraftvoll: Jedes Mal, wenn wir unser Gehirn zwingen, eine Information ohne Hilfsmittel zu rekonstruieren, stärken wir die neuronalen Verbindungen und machen das Wissen dauerhafter abrufbar – ähnlich wie ein Muskel durch Widerstand wächst.
Meine KI-Praxis: Large Language Models (LLM) werden hier zu idealen Trainingspartnern. Ein LLM kann adaptive Quizfragen generieren, die sich dynamisch an mein Verständnisniveau anpassen. Es kann als virtueller Prüfer fungieren, der mich mit gezielten Nachfragen herausfordert, oder als geduldiger Zuhörer dienen, dem ich komplexe Themen erklären muss und der dann präzise nach Lücken oder Unklarheiten bohrt. Der entscheidende Vorteil liegt darin, dass die KI unendlich verfügbar ist und keine vorgefertigten Antworten liefert, sondern mich konstant dazu bringt, selbst zu denken.
Privat nutze ich Readwise, ein Tool, das alle meine Markierungen und Notizen verwaltet. Dort kann ich auch mit meinen eigenen Notizen chatten, was perfekt für das gezielte Abrufen von Informationen ist, wenn mich ein Thema besonders interessiert. Trotzdem scheue ich die konsequente Umsetzung in vielen Bereichen, da es schlichtweg anstrengend ist. Dabei weiß ich, dass das Lesen ohne aktives Abrufen eine der ineffizientesten Lernformen ist.
Für deine Lehre: Entwickle KI-gestützte Aufgabenstellungen, die die Lernenden zum aktiven Abrufen zwingen, zum Beispiel: „Erkläre X in eigenen Worten und gib ein Praxisbeispiel, das nicht im Skript steht.” Lass die KI eine kritische Rolle übernehmen, beispielsweise als verwirrte Kollegin oder skeptische Patientin, sodass die Lernenden ihr Wissen situativ anwenden müssen.
2. Spaced Repetition mit KI: Die Vergessenskurve intelligent überlisten
Das Prinzip: Spaced Repetition nutzt die Tatsache, dass unser Gehirn Informationen gemäß der Ebbinghaus'schen Vergessenskurve vergisst – es sei denn, wir wiederholen sie strategisch in zunehmenden Abständen. Anstatt stundenlang am Stück zu lernen, verteilen wir das Lernen über Tage, Wochen und Monate: Heute, in drei Tagen, in einer Woche, in einem Monat. Dieser „Spacing Effect” zwingt das Gehirn, schwächer werdende Gedächtnisspuren immer wieder zu reaktivieren und dabei zu verstärken. Das führt zu einer exponentiell besseren Langzeiterinnerung.
Meine KI-Praxis: KI wird hier zum intelligenten Lernpartner, der individuelle Vergessensraten erfasst und personalisierte Wiederholungsintervalle berechnet. Schwierige Konzepte werden häufiger wiederholt, gut verstandene seltener. Das System optimiert sich selbst und greift ein, wenn das Vergessen droht.
Readwise legt mir automatisch alle meine gesammelten Markierungen in regelmäßigen Abständen wieder vor – eine natürliche Form der Wiederholung. Das Tool könnte sogar Spaced-Repetition-Kärtchen aus meinen Notizen generieren. Diese Funktion habe ich jedoch bisher nicht aktiviert. Es ist frustrierend: Ich weiß, dass ich wie fast alle anderen fast alles vergesse, was ich lese. Die digitale Infrastruktur für systematische Wiederholung steht bereit, aber die Umsetzung scheitert an meiner eigenen Bequemlichkeit.
Für deine Lehre: KI-Systeme ermöglichen es uns selbstoptimierende Lernsysteme zu entwickeln, die erkennen, wann Lernende kurz vor dem Vergessen stehen, und dann gezielt intervenieren. Das Ergebnis ist ein selbstoptimierendes Lernsystem, das dafür sorgt, dass nichts Wichtiges verloren geht.
3. Interleaving mit KI: Produktive Verwirrung als Lernstrategie
Das Prinzip: Beim Interleaving wechseln wir zwischen verschiedenen Themen oder Problemtypen, anstatt ein Gebiet vollständig abzuarbeiten, bevor wir zum nächsten übergehen. Diese scheinbare „Verwirrung” ist gewollt. Wenn unser Gehirn ständig zwischen verschiedenen Konzepten hin- und herspringen muss, wird es gezwungen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen, Muster zu identifizieren und flexiblere Denkstrukturen zu entwickeln. Anstatt beispielsweise drei Stunden am Stück Algebra zu üben, sollten wir Algebra, Geschichte und Englisch in kurzen Blöcken abwechseln.
Meine KI-Praxis: Large Language Models können hier zu intelligenten Lernassistenten werden. Sie können personalisierte Lernpläne erstellen, die verschiedene Themen optimal vermischen. Sie erkennen, wann wir zu lange bei einem Konzept verweilen, und schlagen strategische Wechsel vor. Sie präsentieren ähnliche, aber subtil unterschiedliche Problemtypen, um die Diskriminationsfähigkeiten zu schärfen, und zeigen überraschende Verbindungen zwischen scheinbar unzusammenhängenden Themen auf.
Ich selbst hadere immer wieder damit, dass ich zwischen so vielen Interessensgebieten springe – von Bildungsforschung zu KI-Entwicklung, von Philosophie zu praktischen Lehrfragen. Im Sinne des Lernens ist dieses natürliche Interleaving offenbar förderlich, für die Selbstorganisation jedoch oft frustrierend. KI hilft mir dabei, mich schneller in neue Gebiete einzuarbeiten und flüssiger zwischen verschiedenen Themen zu wechseln. Anstatt mühsam den Kontext zu rekonstruieren, kann ich einem LLM schnell erklären, wo ich stehe, und nahtlos dort weitermachen, wo ich aufgehört habe. Was früher wie Sprunghaftigkeit wirkte, entpuppt sich so als effektive Lernstrategie.
Für deine Lehre: Diese bewusste Orchestrierung kognitiver Wechsel erfordert didaktische Sensibilität. KI kann dabei helfen, Lernsequenzen zu entwickeln, die produktive Verwirrung auslösen, ohne die Lernenden zu überfordern.
4. Elaboration mit KI: Neue Wissensnetze knüpfen
Das Prinzip: Elaboration verwandelt isolierte Informationen in ein reiches Netzwerk von Verbindungen, indem neue Inhalte aktiv mit Vorwissen verknüpft werden. Anstatt zu akzeptieren, dass „Gamification die Motivation steigert”, fragen wir: „Warum funktionieren Spielelemente beim Lernen?” Wie passt das zu dem, was ich über intrinsische Motivation weiß? Welche psychologischen Prinzipien stecken dahinter und wo habe ich ähnliche Effekte schon erlebt?” Diese tiefere Verarbeitung schafft multiple Abrufwege und macht Wissen bedeutungsvoller und dauerhafter.
Meine KI-Praxis: Large Language Models können hier zum virtuellen sokratischen Tutor werden. Sie können systematisch tiefere Fragen generieren, die mich zum Nachdenken zwingen. Sie können Analogien und Metaphern vorschlagen, die komplexe Lerntheorien greifbarer machen. Sie können bestehende Wissensverbindungen aufdecken, indem sie fragen: „Wie hängt das mit deiner Erfahrung als Lehrende zusammen?” Und sie können als Gesprächspartner fungieren, der mich durch elaborative Dialoge führt.
Genau so nutze ich KI – um mir Themen im Dialog tiefgreifender zu erarbeiten und vor allem, um Bezüge zu anderen Gebieten herzustellen, die mich interessieren. Ursprünglich wollte ich dieses Prinzip mit einem Zettelkasten umsetzen, aber mit KI funktioniert es für mich deutlich besser. Besonders wertvoll wird es, wenn die KI bereits viele meiner früheren Chats kennt und diese mit auswertet – dann entstehen wirklich feine, tiefe Diskurse, weil sie meine Denkwege und Interessen kennt und darauf aufbauen kann.
Für deine Lehre: Entwickle systematische Verknüpfungsdialoge: KI kann hartnäckig nach Verbindungen zu Vorerfahrungen fragen und so dabei helfen, implizites Wissen explizit zu machen.
5. Generation mit KI: Erst denken, dann nachschauen
Das Prinzip: Generation basiert auf dem paradoxen Befund, dass wir besser lernen, wenn wir erst versuchen, Antworten selbst zu generieren, bevor wir sie nachschlagen – selbst wenn unsere ersten Versuche falsch sind. Anstatt also sofort die Definition von „konstruktivistischem Lernen” zu googeln, sollten wir erst überlegen: „Was könnte das bedeuten? Wie würde ich das basierend auf dem Wort erklären?” Diese initiale Anstrengung, Wissen zu konstruieren, aktiviert relevante Gehirnregionen und macht uns empfänglicher für die korrekte Information, wenn sie folgt.
Meine KI-Praxis: Large Language Models können diesen Prozess elegant unterstützen. Sie können als sokratische Gesprächspartner fungieren, die uns durch gezielte Fragen zur eigenen Antwortfindung führen, anstatt uns sofort Lösungen zu präsentieren. Um ehrlich zu sein: Ich weiß um diesen Effekt, aber meine KI-Nutzung hilft da nicht. Das ist sogar etwas, das sich durch meine KI-Nutzung verschlechtert hat – ich muss weniger nach eigenen Lösungen suchen, lasse sie mir generieren und diskutiere sie dann jedoch oft mit der KI.
Mir ist dieser Effekt bewusst. Genau deswegen konzipiere und implementiere ich KI-Chatbots für die Lehre, die nach dem sokratischen Prinzip funktionieren und von mir mit entsprechenden Prompts konfiguriert sind. Was ich selbst nicht immer konsequent praktiziere, versuche ich wenigstens meinen Studierenden zu ermöglichen.
Für deine Lehre: Nutze KI als sokratischen Gesprächspartner und frage: „Was könnte X bedeuten?” Warum denkst du das? Auf welche Erfahrungen stützt sich deine Vermutung?” Erst wenn die Lernenden ihre Denkwege offengelegt haben, liefert die KI eine Bestätigung oder Korrektur.
6. Reflexion mit KI: Lernen über das Lernen
Das Prinzip: Reflection fordert uns auf, regelmäßig innezuhalten und über unseren Lernprozess nachzudenken. Dabei stellen wir uns zum Beispiel folgende Fragen: Was habe ich gelernt? Welche Strategien haben funktioniert? Wo bin ich gescheitert und warum? Was würde ich beim nächsten Mal anders machen? Diese Metakognition – das Denken über das Denken – ist entscheidend für nachhaltiges Lernen, da sie uns dabei hilft, effektive von ineffektiven Lernstrategien zu unterscheiden und unsere Herangehensweise kontinuierlich zu optimieren.
Meine KI-Praxis: Large Language Models können hier zu persönlichen Lerncoaches werden. Sie können strukturierte Reflexionsgespräche führen, die mich durch gezielte Fragen zu tieferen Einsichten über meinen Lernprozess leiten. Sie können meine Lernmuster und -gewohnheiten analysieren, indem sie meine Beschreibungen auswerten und Trends aufzeigen. Sie können als neutrale Beobachter fungieren, die ohne Wertung nachfragen und mir helfen, blinde Flecken zu erkennen. Und sie können personalisierte Empfehlungen für Verbesserungen geben, die auf meinen reflektierten Erfahrungen basieren.
Das ist etwas, wozu ich KI wirklich häufig nutze – insbesondere ChatGPT, da es auf meine alten Chatverläufe und Reflexions- und Diskussionsrunden zugreift. Ich lasse meine Chatverläufe analysieren und diskutiere, ob eine neue Vorgehensweise zu dem passt, was ich in der Vergangenheit von mir gegeben habe. Das funktioniert hervorragend und hat mich sehr bei der Weiterentwicklung und Reflexion unterstützt. Es ist, als hätte ich einen objektiven Beobachter meiner eigenen Lernreise, der Muster erkennt, die mir selbst verborgen bleiben.
Für deine Lehre: Integriere regelmäßige „Lernprozess-Dialoge” mit KI in deine Lehre: Lass deine Lernenden ihre Strategien, Schwierigkeiten und Erkenntnisse dokumentieren und von der KI analysieren. Diese strukturierte Metakognition macht Lernmuster sichtbar und fördert eine bewusste Anpassung der Strategien.
7. Vermeidung von Illusionen des Wissens mit KI: Wenn Vertrautheit täuscht
Das Prinzip: Die Vermeidung von Illusionen des Wissens warnt vor einem der häufigsten Lernfehler, dem trügerischen Gefühl, etwas zu „verstehen”, nur weil es beim Lesen vertraut erscheint oder weil es uns gerade erklärt wurde. Wahres Verständnis zeigt sich erst, wenn wir Konzepte ohne Hilfsmittel erklären, anwenden oder in neue Kontexte übertragen können. Diese Selbstüberschätzung ist besonders tückisch, da sie uns davon abhält, die notwendige Anstrengung für echtes Lernen aufzubringen.
Meine KI-Praxis: Large Language Models können hier als gnadenlose Realitätsprüfer fungieren. Sie können mich durch Nachfragen entlarven, wenn mein Verständnis oberflächlich ist. Sie können verschiedene Anwendungskontexte präsentieren und so testen, ob ich wirklich verstanden habe. Sie können mich dazu zwingen, Konzepte in eigenen Worten zu erklären, statt nur zu nicken. Sie können Transferaufgaben stellen und so zeigen, ob ich Prinzipien flexibel anwenden kann. Und sie können als unbarmherzige Prüfer auftreten, die nicht mit vagen Antworten zufrieden sind.
Für diese spezifische Funktion verwende ich KI tatsächlich weniger. Was mir hingegen hilft, ist das klassische Prinzip: Dinge aufzuschreiben, mit KI zu verbessern und mithilfe von KI zu lehren, also Vorträge und Seminare zu halten. Wenn ich anderen etwas erkläre, merke ich schnell, wo mein Verständnis lückenhaft ist. Zur Vorbereitung nutze ich KI intensiv, aber der wahre Test meines Wissens kommt beim Lehren selbst.
Für deine Lehre: Konfiguriere KI-Chatbots als „naiven Nachfragenden“: „Aber warum ist das so?“ Kannst du das anders erklären? Was passiert, wenn sich Parameter X verändert?” Durch diese hartnäckigen Vertiefungsfragen werden Wissenslücken aufgedeckt, die bei einer oberflächlichen Betrachtung verborgen bleiben.
8. Wünschenswerte Schwierigkeiten mit KI: Warum Lernen anstrengend sein muss
Das Prinzip: Das finale Prinzip aus „Make It Stick” ist vielleicht das wichtigste: Wünschenswerte Schwierigkeiten (Desirable Difficulties) sind keine Hürde für das Lernen, sondern dessen Voraussetzung. Echtes Lernen fühlt sich oft anstrengend, frustrierend und mühsam an. Diese Empfindungen sind ein Zeichen dafür, dass unser Gehirn arbeitet, neue Verbindungen knüpft und bestehende Strukturen reorganisiert. Bequemes, fließendes Lernen ist dagegen oft oberflächlich und vergänglich.
Meine KI-Praxis: Die KI-Paradoxie zeigt, dass Large Language Models hier eine paradoxe Rolle spielen können. Einerseits können sie uns dabei helfen, angemessene Schwierigkeiten zu schaffen, indem sie adaptive Herausforderungen generieren, die uns an unsere Grenzen bringen, ohne zu überfordern. Sie zwingen uns, zwischen verschiedenen Schwierigkeitsstufen zu navigieren und erzeugen bewusst Verwirrung und produktive Frustration. Andererseits bergen sie die Gefahr, das Lernen zu bequem zu machen, indem sie uns sofortige Antworten liefern und die notwendige Anstrengung abnehmen.
Auch ich tappe immer wieder in diese Lernfalle und nutze KI, um schnell eine Lösung zu bekommen. Das ist manchmal sinnvoll, wenn ich zum Beispiel nur nach Erklärungen suche. Aber ich nutze KI auch für intensiven Diskurs. Manchmal schafft es die KI sogar, mich produktiv zu frustrieren und mit neuen Sichtweisen zu konfrontieren. Um das herauszufinden, muss ich der auf „nett” getrimmten KI jedoch aktiv entgegenprompten und mir bewusst kritisches Feedback holen.
Für deine Lehre: Gestalte bewusst „produktive Frustration“: Konfiguriere Chatbots so, dass sie zunächst Teilantworten geben und die Lernenden zum Weiterdenken zwingen. Erst nach eigenen Lösungsversuchen erhalten sie vollständige Unterstützung. Durch diese dosierte Herausforderung wird die notwendige kognitive Anstrengung aufrechterhalten.
Ein Blick in die KI-Lernzukunft: Wenn Lernen zur Standardfunktion wird
Diese Balance zwischen produktiver Herausforderung und bequemer Lösung wird in Zukunft noch entscheidender werden. Während ich noch mühsam lerne, KI so zu konfigurieren, dass sie mich beim Lernen fordert, statt mir alles abzunehmen, arbeiten die großen KI-Anbieter bereits an Lösungen, die dieses Prinzip von vornherein berücksichtigen.
Claude bietet mittlerweile eine eigene „Lernen“-Funktion an, die sich deutlich vom normalen Chat unterscheidet. ChatGPT experimentiert in Beta-Versionen mit Modi, die bewusst sokratisch agieren, also nicht direkt antworten, sondern durch Nachfragen zum eigenständigen Denken anregen. Google bewirbt Gemini aggressiv für amerikanische Schulen und Universitäten. Es ist offensichtlich: Der Bildungsmarkt ist für alle KI-Anbieter von enormer strategischer Bedeutung.
Auch an der Hochschule Burgenland entwickeln wir für unseren Masterstudiengang E-Learning und Wissensmanagement Chatbots, die auf sokratischen Prinzipien basieren – ein Projekt, das ich im kommenden Semester intensivieren werde. Doch bald werden solche durchdachten Lernmodi nicht mehr mühsam selbst konfiguriert werden müssen, sondern standardmäßig verfügbar sein.
Das ist faszinierend und beunruhigend zugleich. Einerseits könnte es das bewusste, tiefe Lernen mit KI erheblich erleichtern. Andererseits stellt es traditionelle Bildungsanbieter vor fundamentale Fragen: Was passiert mit Institutionen, die primär Informationen vermitteln, wenn diese Vermittlung durch KI effizienter und individueller erfolgen kann? Der gesamte Bildungsbereich steht vor einem Umbruch, dessen Tragweite wir erst allmählich zu verstehen beginnen.
Vom systematischen Scheitern zur emergenten Praxis
Die eingangs erwähnten Studien haben recht: KI kann unser Lernen hemmen oder beflügeln. Interessant ist, dass dies bei derselben Person gleichzeitig für verschiedene Themen gelten kann. Meine Reise vom Zettelkasten zur KI veranschaulicht diese Ambivalenz: Was als systematisches Scheitern begann, wurde zur Entdeckung von Lernformen, die meiner natürlichen Neugier entsprechen.
Die acht Prinzipien aus „Make It Stick” erweisen sich als robust genug, um durch KI-Integration neue Wirksamkeit zu entfalten. Sie transformieren sich von starren Methoden zu adaptiven, KI-unterstützten Prozessen, die individuelle Denkweisen berücksichtigen. Diese Entwicklung spiegelt einen breiteren Wandel in der Bildungslandschaft wider: weg von „One-Size-Fits-All“-Ansätzen, hin zu personalisierten, technologiegestützten Lernumgebungen.
Als Lehrende stehen wir vor der faszinierenden Aufgabe, diese Transformation bewusst zu gestalten. Mein gescheitertes Zettelkasten-Experiment war letztendlich lehrreich, denn es zeigte mir, dass effektives Lernen dann entsteht, wenn Methode und individuelle Lernweise harmonieren. KI bietet uns erstmals die Möglichkeit, diese Passung dynamisch und präzise zu gestalten, ohne die menschliche Dimension des Lernens aus den Augen zu verlieren. Die beste Lernmethode ist und bleibt diejenige, die zu unserer individuellen Denkweise passt – KI macht sie nur zugänglicher.
Meine LinkedIn Beiträge
Die folgenden LinkedIn-Beiträge habe ich seit dem letzten Newsletter veröffentlicht und sind auch ohne LinkedIn-Mitgliedschaft frei zugänglich:
Ist „Prompt Engineering” die KI-Fähigkeit von gestern? Entdecke, warum „Context Engineering” der neue Standard für eine wirklich effektive KI-Nutzung ist.
Menschliche Forschungsideen – doch besser als die von KI? Das ist eine Frage, die wir uns in der Bildungs- und Forschungslandschaft immer häufiger stellen. Eine aktuelle Studie der Stanford University (Si, Hashimoto & Yang, 2025) beleuchtet genau das: die Kluft zwischen begeisternden KI-Ideen und ihrer tatsächlichen Umsetzung in der Forschung.
Readwise habe ich von Dir gelernt! Danke.
Deine Systematik inspiriert!
Ich habe auch gezettelt. Am Ende bin ich (wieder) bei Büchern gelandet, um verlässlich zu zitieren, v.a. wegen der Seitenangabe, und da bei Kindle-Formaten oft keine Seitenangaben zu finden sind, bzw. die KI keine verlässlichen Angaben liefert. Im Internet schwirren zudem eine Vielzahl falsch zugeordneter Zitate herum…alles in allem, das Buch als verlässlichste Quelle, wird sich wohl nicht so schnell überleben. Was machen wir, wenn der Strom ausfällt? Zu Hause braucht es viel Platz, aber es gibt ja auch Bibliotheken…