In den letzten Wochen zwang mich eine hartnäckige Virusinfektion zum Innehalten. Während meine Stimme noch angeschlagen war, habe ich die Zeit genutzt, um mich einem Thema zu widmen, das mich schon länger beschäftigt: Wie funktioniert künstliche Intelligenz eigentlich? In meinen Vorträgen beginne ich zwar immer mit einer kurzen Einführung in die Funktionsweise von KI, aber je mehr ich mich mit dem Thema beschäftige, desto klarer wird mir, dass diese Erklärung oft zu kurz greift.
In den verschiedenen Modellen zur AI Literacy (KI-Kompetenz) wird das Verständnis der Funktionsweise von KI immer wieder als einer der Eckpfeiler genannt. Auf der Suche nach einem tieferen Verständnis stieß ich auf den spannenden Artikel "What Is ChatGPT Doing ... and Why Does It Work" von Stephen Wolfram. Zur Veranschaulichung der Funktionsweise von KI folgt ein kurzer Auszug aus meiner Auseinandersetzung mit dem Artikel. Dieser eignet sich besonders für kurze Einführungen im Bildungskontext, wenn die Funktionsweise von KI schnell und verständlich erklärt werden soll.
Vom Text zum Bedeutungsraum
Um zu verstehen, wie KI funktioniert, hilft ein Vergleich aus dem Bildungsalltag. Stell dir eine Studentin vor, die nicht Tausende, sondern Milliarden Bücher gelesen hat. Im Gegensatz zu unseren Studierenden liest sie diese Texte aber nicht, um sie zu verstehen, sondern um Muster zu erkennen. Sie merkt sich, welche Wörter häufig zusammen vorkommen, in welchen Zusammenhängen sie verwendet werden und wie sie sich zu sinnvollen Sätzen verbinden.
Diese Muster bilden einen "Bedeutungsraum" - man kann sich das wie eine mehrdimensionale Landkarte des Wissens vorstellen. Auf dieser Landkarte liegen verwandte Begriffe nahe beieinander. Wenn wir über Didaktik sprechen, liegen Begriffe wie "Lehre", "Lernziele" und "Kompetenzen" nahe beieinander. "Quantenphysik" oder "Kochrezept" liegen dagegen weiter auseinander, es sei denn, der Kontext stellt eine Verbindung her.
Wenn die KI nun einen Text schreibt, ist das wie eine Wanderung durch diesen Bedeutungsraum. Bei jedem Schritt entscheidet sie anhand von Wahrscheinlichkeiten, welches Wort als nächstes am besten passt. Diese Entscheidungen basieren auf Mustern, die sie in ihren Trainingsdaten erkannt hat. Daher kann es bei jeder einzelnen Anfrage zu unterschiedlichen Formulierungen und Antworten kommen, selbst wenn die gleiche Frage gestellt wird, da die KI aus den verschiedenen möglichen Pfaden im Bedeutungsraum auswählt.
Besonders interessant ist dabei das Konzept der „Temperatur". Es bestimmt, wie experimentierfreudig die KI in ihrer Wortwahl ist. Ein Beispiel: Geben wir der KI den Satzanfang "Die Sonne scheint...". Wenn die Temperatur niedrig ist, entsteht ein sachlicher Text: "Die Sonne scheint hell am Himmel. Es ist ein warmer Tag." - Ideal für Unterrichtsmaterial oder wissenschaftliche Texte. Bei mittlerer Temperatur wird es bildhafter: "Die Sonne scheint durch die Blätter der alten Eiche und wirft tanzende Schatten auf den Rasen". Bei hohen Temperaturen entstehen poetische Formulierungen: "Die Sonne scheint in purpurne Träume, flüstert den Wolkenschafen die Geheimnisse des Regenbogens zu".
Wie KI „lernt“
Das Training einer KI unterscheidet sich grundlegend vom menschlichen Lernen, auch wenn es oberflächliche Ähnlichkeiten gibt. Die KI analysiert riesige Textmengen und erkennt Muster - aber sie entwickelt kein wirkliches Verständnis. Das ist wie bei einem Lernenden, der perfekt Vokabeln nachsprechen kann, ohne deren Bedeutung zu verstehen.
Diese Arbeitsweise hat wichtige Konsequenzen. Wenn wir zum Beispiel KI Texte zusammenfassen lassen, tut sie das nicht, indem sie sie wie ein Mensch versteht und umformuliert, sondern indem sie typische Muster der Zusammenfassung erkennt. Das erklärt auch, warum KI manchmal brillante Texte produziert, aber an scheinbar einfachen logischen Aufgaben scheitert.
Interessant ist auch, wie KI mit Sprache umgeht. Sie zerlegt Texte in so genannte "Tokens" - das können Wörter, aber auch Wortteile sein. Das erklärt, warum sie manchmal kreative Wortschöpfungen hervorbringt oder bei komplexen Fachbegriffen seltsame Trennungen vornimmt. Im Unterrichtskontext ist das besonders wichtig, wenn wir mit Fachbegriffen oder mehrsprachigen Texten gearbeitet wird.
Stärken und Grenzen verstehen
Für uns in der Lehre und Weiterbildung bedeutet das: KI ist hervorragend darin, Texte zu generieren, Ideen zu entwickeln und Zusammenhänge herzustellen. Sie kann kreative Impulse geben und beeindruckende Unterrichtsmaterialien erstellen, aber auch Fehler machen, indem sie Fakten vermischt oder plausibel klingende, aber falsche Aussagen produziert.
Diese Einblicke in die Funktionsweise von KI helfen uns, KI als das zu verstehen, was sie ist: ein mächtiges Werkzeug, das uns in der Lehre unterstützen kann, wenn wir seine Möglichkeiten und Grenzen kennen.
Dieser Beitrag ist eine sehr kurze Einführung, basierend auf meiner 20-seitigen Zusammenfassung des englischsprachigen Artikels von Stephen Wolfram "What Is ChatGPT Doing ... and Why Does It Work". Er soll Lehrenden einen kompakten Überblick darüber geben, wie KI funktioniert.
MEINE LINKEDIN-BEITRÄGE
Die folgenden LinkedIn-Beiträge habe ich seit dem letzten Newsletter veröffentlicht und sind auch ohne LinkedIn-Mitgliedschaft frei zugänglich:
Die Auswirkungen von KI auf hochqualifizierte Arbeit
Produktivitätsschub durch KI: Zeigt uns die Tech-Branche den Weg? Eine spannende Studie von Forschenden der Princeton University, des MIT, von Microsoft und anderen Institutionen (Cui et al., 2024) liefert spannende Erkenntnisse.
Kann KI die Unterrichtsplanung verbessern? Eine neue Studie zeigt: Ja, aber es kommt auf den richtigen Einsatz an!
KI als Turbo für Unternehmens-Know-how
Revolutioniert KI das Wissensmanagement? Eine neue HBR-Studie (474 Teilnehmende) zeigt überraschende Zahlen: 86% sehen Potenzial, aber nur 20% nutzen KI aktiv für das Wissensmanagement. Was bedeutet das für Unternehmen und Bildungseinrichtungen?
Der Wert der Muster sowie der auf ihrer Grundlage generierten Outputs sind nachträgliche externe Zuschreibungen, nachdem sie auf Korrektheit, Vollständigkeit und Brauchbarkeit geprüft wurden. So kann etwa ein unsinniger Output trotzdem in einem Brainstorming zur Gewinnung neuer Impulse und Ideen beitragen. Doch in dieser Hinsicht ist er zwar 'brauchbar', aber zugleich beliebig und durch alles Mögliche austauschbar. Ich spreche ausdrücklich von generativen Sprachanwendungen. Mustererkennung in bildgebenden Verfahren können dagegen eine nützliche Rolle spielen, etwa bei der Früherkennung von Krebserkrankungen.
Auch ich möchte den potentiellen Nutzen generativer Sprachanwendungen nicht apriori ausschliessen. Doch plädiere ich für einen kritisch-distanzierten Blick, denn nur anhand des 'ganzen Bildes' kann man auf einen tatsächlichen Nutzen schliessen, nicht durch das Vorgehen, zu dem die Macher der KI-Systeme auffordern: einfach mal machen, nicht zuviel darüber nachdenken. Wichtige Aspekte, die mir auch bei Ihren Ausführungen fehlen, thematisiere ich in diesem Beitrag:
https://biermann.ch/auf-dem-besten-wege-in-die-digitale-invaliditaet/
Ich plädiere dafür, bei noch so einfachen Erklärungen, wie generative Sprachanwendungen wie ChatGPT funktionieren auch begrifflich strikt zu trennen zwischen der Ebene der Zeichen (Syntax), auf der die Mustererkennung stattfindet, und den Ebenen der Bedeutungen (Semantik) und der Bedeutungen in konkreten Situationen (Pragmatik).
Generative Sprachanwendungen haben keinen zu den Bedeutungen, sind also gar nicht in der Lage, 'Bedeutungsräume' zu kreieren. Insofern geht es um 'Muster ohne Wert', die genau deshalb die Basis für die Generierung von Outputs bilden, die oft plausibel erscheinen, aber falsch oder gar unsinnig sind.
Nur durch diese strikte Trennung gelingt eine Einschätzung dessen, wozu generative KI in der Lage ist - und niemals in der Lage sein wird. Diese Einschätzung wiederum ermöglicht Abwägungen, ob der Aufwand des Einsatzes von KI in einem vertretbaren Verhältnis zum Aufwand steht, der betrieben werden muss, um am Ende brauchbare Outputs herauszubekommen.
Ausserdem halte ich es für zwingend, im Kontext einer Einführung auch darauf einzugehen, was KI mit den Menschen macht, und dass es zahlreiche ernstzunehmende Gründe gibt, die daran zweifeln lassen, dass generativen Sprachanwendungen die Zukunft beschieden sein wird, die die Märchen von den Maschinen mit den menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten versprechen.